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Die 360°-Publikumsanalyse: Eine Fallstudie anhand des Gstaad Menuhin Festival & Academy

Die Beziehung zum Publikum auf eine neue Grundlage stellen. Gstaad Menuhin Festival & Academy, das seit 1957 in einem einzigartigen Rahmen stattfindet, hat sich entschieden, die Beziehung, die es zu seinem Publikum und zur Bevölkerung im Allgemeinen aufgebaut hat, in den Mittelpunkt seiner strategischen Überlegungen zu stellen. Das Ziel? Eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, die Zukunft vorzubereiten und dabei die Potenziale zu identifizieren.

 

Da es dafür solide Erkenntnisse bedarf, entschied sich das Festival uns, L’Oeil du Public, ein 360°-Forschungsprogramm anzuvertrauen.

Das Festival im Berner Oberland verfügte nämlich – wie viele Kultureinrichtungen – schon über ein Wissen über sein Publikum, welches auf den im Laufe der vielen Jahre gesammelten Erfahrungen und auf den Daten des Billett-Verkaufs beruhte, aber doch bruchstückhaft und nicht immer belegt war. Auch ein Bild des Nicht-Publikums war in intuitiver Form vorhanden, es mangelte diesbezüglich aber an profunden Kenntnissen über diese Gruppe, aus derer sich das neue Publikum generiert.

Wie sind wir nun genau dabei vorgegangen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen? Wie haben wir diese Forschung konzipiert und welche Werkzeuge haben wir dafür angewandt? Und welche Erkenntnisse konnten schlussendlich gewonnen werden? Dieser Artikel möchte Ihnen dazu einen kleinen Einblick geben.

Erster Schritt: Ermittlung der Bedürfnisse

Vorangegangen waren mehrere Gespräche, in welchen wir sowohl die Bedürfnisse der Institution als auch die Art und Weise, wie wir diesen Anforderungen gerecht werden, ausführlich erörtert hatten.

Die Forschungsfragen wurden daher aus einem Gespräch mit der Direktion heraus formuliert – aber nicht nur: In der Absicht, das ganze Team in den Prozess miteinzubeziehen, waren alle Mitglieder des Festival-Teams an den Diskussionen beteiligt.

Die folgenden Hauptfragen wurden identifiziert:

Was ist die geografische Resonanz des Festivals? Wie lässt sich die Wahrnehmung und Rezeption des Festivals generell beschreiben? Genauer im Hinblick auf die Besucher:innen: Was sind die Merkmale des Publikums des Festivals? Wie lassen sich diese faktischen Daten durch ein tieferes Verständnis aufs Gefühlsebene ergänzen? Wie schätzen die Festivalbesucher:innen die räumliche und infrastrukturelle Ausstattung vor Ort ein? Gibt es Wechselbeziehungen hinsichtlich der lokalen Tourismusindustrie? Wie gestaltet sich die Wirkkraft von Sponsoring und wie kann man sie quantifizieren? Welches Echo findet die Plattform des Gstaad Digital Festivals und wie gestaltet sich die Wechselbeziehung zu den Zuschauerzahlen vor Ort?

Und da das Festival auch das finale Ziel hatte, sein Publikum zu vergrössern, war es zudem notwendig, Wachstumspotenziale zu identifizieren.

Viele interessante Fragestellungen, ein grosses Festival, verschiedenste Herausforderungen – Was nun?

Eine Werkzeugkiste nach Mass

Für das Festival war es wichtig, sowohl faktische & repräsentative als auch tiefergehende & inspirierende Antworten auf die Fragestellungen zu sammeln. Im Sinne einer 360°-Betrachtung sollte auch das Nicht-Publikum ein integraler Bestandteil der Studie sein. Ebenso war es von Bedeutung, das Erscheinungsbild des Festivals auf seinen digitalen Touchpoints in der Untersuchung abzudecken. Darüber hinaus war es wichtig, Erkenntnisse zu erhalten, die in konkrete Massnahmen umgewandelt werden können.

Um angemessene Lösungsansätze zur Vielfalt dieser Fragestellungen zu finden, bedarf es eines gut strukturierten Werkzeugkastens – und um Fragen zu beantworten, die sowohl das Publikum als auch das Nicht-Publikum direkt betrafen, entschieden wir uns für eine Kombination von qualitativen und quantitativen Werkzeugen (auch bekannt als «Mixed Methods»). Es war nämlich für das Festival wichtig, auch die emotionaleren und subtileren Dimensionen der Beziehungen zwischen Festival und Publikum tiefergehend zu erforschen.

Qualitative und quantitative Forschung

Durch eine qualitative Forschung konnte somit eine auf die Gefühlsebene ausgerichtete Perspektive integriert werden: Dabei wurden die sogenannten „schwachen Signale“ und die weniger bewussten sowie teilweise verborgenen Vorstellungen der Festivalbesucher:innen genauer untersucht.

In dieser qualitativen Teilstudie konnten wir in Gruppendiskussionen halbstrukturierte Interviews durchführen. Dafür wurden zwei unterschiedliche Gruppendiskussionsrunden aufgebaut: Eine mit regelmässigen Festivalgänger:innen und eine mit Personen, welche das Festival in Gstaad nur unregelmässig bzw. selten besuchen. Mittels assoziativer und projektiver Fragen gelang es uns die Werte, mit dem die Veranstaltung verbunden wird, als auch das wahrgenommene Image des Festivals, das teils verborgen bleibt, heraus zu kristallisieren.

Die quantitative Studie bildet den Kern des Forschungsprojekts. Die Idee war, ein repräsentatives und somit zuverlässiges Bild des Verhältnisses zwischen dem Festival und seinem Publikum und Nicht-Publikum zu erhalten. Das quantitative Verfahren ist somit dasjenige, das sich am meisten an der Entscheidungsfindung orientiert.

Folglich konnten in einer Umfrage Meinungen und Bewegungsgründe von über 2600 Personen eingeholt werden. Es wurde dafür eine bevölkerungsrepräsentative, auf verschiedenen Quoten aufgebaute Stichprobe definiert und befragt. Abgedeckt wurden Aspekte wie das Kulturverhalten, die Bekanntheit des Festivals, der Besuch des Festivals unter verschiedenen Gesichtspunkten, seine Wahrnehmung oder auch die Effizienz des Sponsorings.

Analyse der digitalen Präsenz & der Customer Journey

Ergänzend hierzu konnten wir auch eine Digital Touchpoint-Analyse durchführen, in welcher wir alle digitalen Berührungspunkte mittels ausgewählter Tools wie z.B. SEMRush auf ihre Kohärenz und Effizienz überprüfen konnten, um letztendlich die Potenziale zur Verbesserung der digitalen Präsenz zu identifizieren.

Wichtig für das Festival war es auch das Erlebnis vor Ort zu evaluieren. Was sind die «erfolgreichen» Aspekte der Besucher:innen-Erfahrung? Welche Aspekte könnten verbessert werden?  Dafür wurde eine Customer Journey-Analyse durchgeführt und zwar von der Bestellung der Eintrittskarten bis zur Heimreise. Im Anschluss an acht Konzerte wurden die Leute zu unterschiedlichen Aspekten des Festivalerlebnisses befragt. Auf diese Weise war es möglich, den Einfluss der konzertspezifischen Merkmale ebenso wie die verschiedenen Profile des Publikums pro Konzert zu umschiffen.

Von der Beobachtung zum Verständnis, vom Verständnis zur Handlung

Um zu erheben, wo neues Festivalpublikum gewonnen werden kann, führten wir zudem eine Geomarketinganalyse durch, die sich sowohl aus Daten aus unserer quantitativen Studie sowie aus Daten des BfS (Bundesamt für Statistik) speiste. Die gesamte Datenmenge wurde letztlich durch einen von L’Oeil du Public entwickelten Algorithmus bearbeitet. Dadurch waren wir in der Lage, auf einer Karte der Schweiz die genauen Gebiete zu identifizieren, welche ein noch nicht ausgeschöpftes Publikumspotenzial enthalten.

Schliesslich führten wir mit Mitarbeitenden des Gstaad Menuhin Festival & Academy einen eintägigen Workshop durch, um – nach der Präsentation der Studien – gemeinsam die «Learnings» aus den gesammelten Informationen herauszuarbeiten und entsprechende zielgerichtete Massnahmen zu identifizieren. Dieser Workshop stellte eine nicht unerhebliche Etappe dar und war für das Marketing-Team und die Geschäftsleitung der Ansatzpunkt für die Überarbeitung des Festivalkonzeptes.

 

Lukas Wittermann, Geschäftsführer von Gstaad Menuhin Festival & Academy  (Copyright Raphael Faux)

«Wir müssen ständig vorausschauen und uns immer wieder in Frage stellen. Diese Arbeit kann sich nur auf eine tiefe Kenntnis unseres Publikums und der Art und Weise, wie das Festival mit ihm interagiert, stützen.»

Ein Einblick in die Studienerkenntnisse

Das Studienprojekt konnte unter anderem zwei strategische Parameter des Festivals beleuchten: Bekanntheit und Wahrnehmung.

Die gründliche Untersuchung des Bekanntheitsgrades ermöglichte es, über die einfache Angabe eines Prozentsatzes hinauszugehen. Indem man den Bekanntheitsgrad des Festivals mit dem von ähnlichen kulturellen Angeboten verglich und diesen Bekanntheitsgrad mit verschiedenen – insbesondere geografischen – Parametern kreuzte, erhielt man ein genaueres Bild davon, wie das Festival in der Region und bei der Bevölkerung verankert ist.

Es konnte auch die Art und Weise, wie Menschen das Festival wahrnehmen, detailliert erfasst – als auch die Diskrepanzen zwischen gewünschtem und effektiv wahrgenommenem Bild in der Studie aufgezeigt werden. Ebenso gelang es diesbezüglich den Kern der Positionierung des Gstaad Menuhin Festival & Academy und dessen Differenzierungsmerkmale im Vergleich zu Konkurrenzangeboten zu identifizieren.

Viele der im Laufe der Jahre gewonnenen Erkenntnisse konnten durch Zahlen bestätigt werden – und hier liegt auch ein wichtiger Mehrwert von Studien, denn sie können empirisches Wissen aus einer neutralen externen Perspektive objektivieren.

Andere Erkenntnisse konnten auch etwas überraschen. So hat die Forschung – im Gegensatz zu dem, was man vielleicht denken könnte – den bodenständigen Charakter des Gstaad Menuhin Festival & Academy hervorgehoben, was konträr zu dem mondänen Image steht, welches beim Wort «Gstaad» mitschwingt. Besonders Menuhin selbst wurde hierbei als eine sinnstiftende Figur und eine umgängliche und geschätzte Person in Erwähnung gebracht. Die Bedeutung der historischen Leitfigur für das Publikum war bis jetzt etwas unterschätzt worden und diese neue Erkenntnis konnte schnell in eine Handlung umgesetzt werden. Somit konnte durch die qualitative aber auch durch die quantitative Forschung etabliert werden, dass «die Menuhin-Komponente» das Festival in eine starke und differenzierende Erzählung einbettet und somit ein bedeutsames Alleinstellungsmerkmal darstellt.

Die Wirksamkeit des Sponsorings wird dokumentiert

Die Studie konnte zudem auf klare Weise die Wirksamkeit des Sponsorings für die Sponsorenmarken nachweisen: Die Marken klingen auch im zeitlichen Abstand zur Veranstaltung im Gedächtnis des Konzertpublikums auf einer nachweisbaren Weise nach. Dies konnte durch ein Vergleichsverfahren belegt werden. Darüber hinaus zeigen die Studien, dass die mit dem Festival assoziierten Werte und die Markenimages der Sponsoren übereinstimmen. Dieser konkrete Fall des Sponsorings stellt mustergültig eines derjenigen Beispiele dar, wie sich die Erkenntnisse der qualitativen Studie und jene der quantitativen Studie ergänzen.

Der wirtschaftliche Impakt des Festivals auf die Region

Ebenso konnte deutlich nachgewiesen werden, dass sich das Festival auf die Wirtschaft der Destination Gstaad positiv auswirkt. So gehen 55% des Publikums vor oder nach dem Konzert ins Restaurant und 39% übernachten explizit wegen dem Konzertbesuch in Hotels vor Ort und anderen lokalen Unterkünften.

Ansatzpunkte zur Erweiterung des Publikums

Aus der quantitativen Studie konnten wir zudem die Einsicht gewinnen, dass klassische Musik keineswegs von der jungen Generation insgesamt abgelehnt wird: Durch die bevölkerungsrepräsentative Forschung konnte etabliert werden, dass 38% der 18-35jährigen Befragten klassische Musik manchmal oder oft hören (die zwei höchsten Items auf einer 4er-Skala). Der Umstand, dass sie sich aber prozentual deutlich weniger am Festival einfinden, lässt sich also demnach kaum durch mangelndes Interesse für die Musik an sich erklären. Auf der Ebene der ganzen Bevölkerung konnten wir in unserer Forschung relevante motivationale Einflussfaktoren identifizieren, die dazu beitragen könnten, diese «passiven Hörer» in «aktive Besucher» zu verwandeln.

Die Assoziationen der Potentialanalyse und der qualitativen und quantitativen Studien lieferten ausserdem wertvolle Ergebnisse für die Entwicklung des Festivals in Richtung Westschweiz, indem sie die Motivationen und Barrieren in den französischsprachigen Kantonen präzisierten und die geografischen Wachstumspfeiler auch dort aufzeigten.

Für den Aufbau des Publikums sind auch die kommunikationsbedingten Erkenntnisse von Bedeutung. Die Digital Touchpoints-Analyse konnte unter anderem aufzeigen, dass die Reichweite der digitalen Plattform höher war, als vermutet.

Das Forschungsprojekt hat gezeigt, welch wertvolle Erkenntnisse eine multidimensionale Betrachtung liefern kann. Durch die 360°-Analyse konnte eine verlässliche, tiefgehende und handlungsorientierte Bestandsaufnahme erreicht werden. Dies ermöglicht es, Ressourcen zielgerichtet für die Weiterentwicklung des Festivals einzusetzen, sodass Yehudi Menuhins Vision auch in Zukunft neue Horizonte erschliessen wird.

Dass dieses Studienprogramm in die Tat umgesetzt werden konnte, ist auch darauf zurückzuführen, dass das gesamte Festivalteam den Prozess aktiv unterstützte und stets an den Überlegungen beteiligt war. Im Übrigen wollen wir hier nochmals betonen, wie wichtig die Beziehung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer für den Erfolg eines Forschungsprojekts ist. Somit möchten wir dem ganzen Team von Gstaad Menuhin Festival & Academy und besonders Lukas Wittermann, dem Geschäftsführer des Festivals, ein grosses Dankeschön für das Vertrauen und den herzlichen und stets spannenden Austausch aussprechen. 

Ermöglicht wurde das Studienprojekt durch die wertvolle Unterstützung des Bundesamtes für Kultur und des Kantons Bern im Rahmen eines Transformationsprojektes zur Anpassung an die durch die Covid-19-Epidemie veränderten Bedingungen.

Benjamin Ross & Fabien Morf
© L’Oeil du Public
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